Was Führungskräfte zum Arbeitsschutz beitragen können
In diesem Artikel geht es um psychologische Sicherheit und das Buch dazu von Amy Edmondson, "Die angstfreie Organisation". Der Artikel ist 2022 im Fachmagazin "Der Sicherheitsbeauftragte" erschienen.
Wenn psychologische Sicherheit fehlt
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Besprechung mit einem kleinen Team anderer Führungskräfte sowie ihrem Chef. Es geht um Platz, der ständig knapp ist, um Dinge, die immer wieder hin- und hergeschoben werden müssen und ständig im Weg stehen. Ein andauerndes Problem, das sie alle regelmäßig beschäftigt. Die Fluchtwege müssen nun mal frei sein. Sie haben eine gute Idee für eine neue Art Regal, in dem doppelt so viele Teile untergebracht werden könnten, weil es ideal aufgeteilt ist. Damit könnte man gut Platz schaffen. Motiviert sprechen Sie die Idee an. Noch beim Erklären erkennen Sie genervte Blicke, offensichtliches Desinteresse und undifferenzierte Ablehnung. Ein „Können wir jetzt weitermachen“-Kommentar gibt Ihnen den Rest und Sie wissen, dass Sie in diesem Gremium sicher keinen Vorschlag mehr einbringen werden.
Genauso geht es auch einem Mitarbeiter in der Produktion. Wenn er einmal eine Idee geäußert hat und diese auf taube Ohren gestoßen ist oder gar kritisiert wurde, wird er danach verstummen. Eine gewisse Gleichgültigkeit stellt sich ein, eine „Ist doch eh egal“-Haltung. Mit dieser Haltung wird es schwierig, top Qualität, vorausschauendes Handeln und kreative Ideen für Prozess- oder Arbeitsplatzverbesserungen zu erhalten. Und eben auch für den Arbeitsschutz. Was hier vor allem fehlt, ist psychologische Sicherheit.
Was versteht man unter psychologischer Sicherheit?
Das Konzept der psychologischen Sicherheit ist seit über 20 Jahren bekannt. Mittlerweile gibt es jede Menge Studien und Erkenntnisse dazu, die Amy Edmondson in ihrem Buch „Die angstfreie Organisation“ anschaulich aufbereitet und zusammengefasst hat. Sie definiert darin psychologische Sicherheit als „Überzeugung […], dass die Arbeitsumgebung sicher genug ist, um darin zwischenmenschliche Risiken einzugehen.“ Es geht um die Erfahrung, relevante Ideen, Fragen oder Bedenken äußern zu können, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Werde ich als unwissend, inkompetent, aufdringlich oder negativ wahrgenommen, wenn ich eine Frage stelle, einen Fehler zugebe, Ideen äußere oder einen Plan kritisiere? Wenn ja, herrscht eine Kultur der Angst, in der es sehr wahrscheinlich ist, dass man sich eben nicht einbringt, engagiert, Ideen äußert oder Gefahrstellen meldet. Angst ist keine wirksame Motivation und behindert das Lernen. Aus Angst sind schon viele Fehlentscheidungen mit teils dramatischen Folgen getroffen worden.
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die psychologische Sicherheit sowohl die Geschäftsergebnisse wie auch die Arbeitssicherheit beeinflussen. In einer Gallup Umfrage 2017 kam heraus, dass nur drei von zehn Mitarbeitern das Gefühl hatten, dass ihre Meinung am Arbeitsplatz gehört wird. Aus der Studie wurde gefolgert, dass es, wenn dieses Ergebnis auf sechs von zehn Mitarbeitern verbessert werden könnte, 27% weniger Mitarbeiterfluktuation, 40% weniger Unfälle und 12% mehr Produktivität geben könnte. Wow.
Wie schafft man psychologische Sicherheit?
Bei psychologischer Sicherheit geht es auf jeden Fall nicht darum, einfach nur nett zu sein. Es geht um Aufrichtigkeit, Respekt, Wertschätzung. Um psychologische Sicherheit zu schaffen, braucht es drei Aspekte: Voraussetzungen schaffen, Mitwirkung einladen und produktiv reagieren. Immer wieder. Dies ist die Aufgabe der Führungskräfte auf allen Ebenen einer Organisation. Damit schaffen sie psychologische Sicherheit. Mit einem guten Gespräch nach dem anderen.
Hier wird einmal mehr deutlich, wie wichtig die Rolle der Führungskräfte für den Arbeitsschutz ist. Nicht nur, weil es im Gesetz steht und sie diverse Aufgaben erfüllen müssen, sondern vor allem, weil sie für psychologische Sicherheit sorgen müssen. Wenn ihnen das nicht gelingt und es eine Kultur der Angst gibt, wird es selbst die beste Fachkraft für Arbeitssicherheit schwer haben, den Arbeitsschutz voranzubringen. Diese Verantwortung kann den Führungskräften keiner abnehmen. Und gleichzeitig haben sie so viele einfache Möglichkeiten, die psychologische Sicherheit zu stärken, dass es selbstverständlicher Teil des Alltagsgeschäfts sein könnte. Eben die Art, wie man führt. Dann ist Arbeitsschutz einfach integriert in die tägliche Arbeit.
Mir gefällt diese Vision, dass Arbeitsschutz selbstverständlicher Teil der täglichen Arbeit wird und Unternehmen erkennen, dass guter Arbeitsschutz maßgeblich zum Unternehmenserfolg beiträgt. Dabei hilft das Konzept der psychologischen Sicherheit und gibt Hilfestellungen, wie das gelingen kann. Natürlich richtet sich dies in erster Linie an Führungskräfte. Aber auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit können in ihrem Einflussbereich für psychologische Sicherheit sorgen und damit die Sicherheitskultur ihres Unternehmens stärken.
Ein Mitarbeiter hat mich bei meinem Rundgang gesehen und angesprochen. Er fand, dass es gefährlich sei, dass der Platz auf der Rückseite einer Maschine so vollgestellt ist. Er befürchtete, dass er über die abgestellten Dinge stolpern würde, während er an der Rückseite der Maschine etwas repariert. Ich habe ihm zugehört, seine Sichtweise bestätigt, mich für die aufmerksame Beobachtung bedankt und ihn gebeten, mit seinem Vorgesetzten darüber zu sprechen. Der Vorgesetzte kann entscheiden, was mit den abgestellten Dingen passieren soll und wer sich um die Beseitigung kümmert. In der darauffolgenden Führungsrunde haben wir ebenfalls über die Situation gesprochen.
Hier wurde die entscheidende Frage thematisiert – wie schaffen wir es, dass der Mitarbeiter, diese Bedenken im Alltagsgeschäft direkt mit seinem Vorgesetzten bespricht, damit solche Risiken direkt und unkompliziert gelöst werden können.
Meine These dazu war, dass sich der Mitarbeiter nicht getraut hat. Er befürchtete, dass der Vorgesetzte mit einem „das ist doch nicht so schlimm“ oder „och, hab dich nicht so, wir haben keinen Platz“ reagieren könnte. Eine solche Zurückweisung wollte er vermeiden.
Nun liegt es an den Vorgesetzten, eine Umgebung zu schaffen, in der psychologische Sicherheit (siehe Glossar und Artikel Sicherheitsingenieur) herrscht und man Bedenken bedenkenlos äußern kann. Wenn dann Risiken und unsichere Situationen angesprochen und schnell gelöst werden, haben wir eine gute Präventionskultur geschaffen.